Frère Alois Loeser
Prior der Communauté von Taizé
Das monastische Leben heute.
Gemeinschaft im Lichte des Wortes Gottes
Die Gemeinschaft von Taizé lebt aus tief ökumenischen und monastischen Wurzeln. Frère Alois ist der Nachfolger von Frère Roger und unterstreicht wie dieser die Bedeutung von Gemeinschaft, Versöhnung und Solidarität. Er zeigt, wie seine eigene Gemeinschaft aus dem nährenden und geteilten Gotteswort heraus lebt.
Lieber Abtprimas, liebe Äbte,
Ich möchte Ihnen zunächst ganz herzlich für die Einladung zu diesem Kongress danken. Ich muss allerdings gleich hinzufügen, wie sehr ich mich darüber gewundert habe: Frère Roger hat Taizé immer als einen kleinen Spross bezeichnet, der auf den großen Baum des monastischen Lebens aufgepfropft ist und ohne diesen Baum gar nicht leben könnte. Was kann also so ein kleiner Spross für die großen Äste dieses Baumes tun, die sich seit Jahrhunderten in den Himmel strecken? Sollte ich nicht besser Ihnen zuhören und den „Saft“, der durch Sie hindurchfließt, in mich aufnehmen?
Aber Sie haben mich gebeten, zu Ihnen zu sprechen, und so möchte ich ganz einfach beschreiben, wie wir in Taizé versuchen, ein monastisches Leben zu führen. Dies hat unmittelbar mit dem von Ihnen vorgeschlagenen Thema zu tun, denn es gehört ganz wesentlich zu unserer Berufung, uns auf unserer Suche nach Gemeinschaft vom Wort Gottes führen zu lassen. Im ersten Teil möchte ich heute über die Quelle unseres gemeinsamen Lebens sprechen, nämlich die Gemeinschaft mit Gott. – Im zweiten Teil werde ich näher darauf eingehen, worin unser Ziel besteht: in einer tiefen brüderlichen Gemeinschaft. – Im dritten Teil werde ich dann darlegen, was daraus folgt: Eine Gemeinschaft muss sich öffnen und missionarisch werden.
Zunächst zum Wort Gottes: Ich habe noch immer die Worte eines Bischofs aus Lettland im Ohr, der im Jahr 2008 bei der Bischofssynode zum Thema „Das Wort Gottes im Leben und in der Sendung der Kirche“ von einem Priester namens Viktor sprach, der während des kommunistischen Regimes in seinem Land verhaftet wurde, weil man eine Bibel bei ihm fand. Während des Verhörs warfen die Untersuchungsbeamten damals die Bibel auf den Boden und befahlen dem Priester, mit den Füßen auf sie zu treten. Der Priester kniete sich stattdessen hin und küsste das Buch, woraufhin er zu zehn Jahren Arbeitslager verurteilt wurde. Ein solches Zeugnis führt einem vor Augen, wie weit die Liebe zur Bibel mancher Menschen ging und wie sie das Leben Einzelner verändert hat. Wir würden uns eine solche Liebe auch für unser eigenes Leben wünschen. Die vielen Glaubenszeugen und Märtyrer unserer Tage sind ein Widerschein der Lebendigkeit des Wortes Gottes.
Eine persönliche Beziehung zu Gott
Die Gemeinschaft mit Gott ist die Quelle jedes monastischen Lebens. Sie kommt in der Schrift auf besondere Weise im Bericht von der Verklärung Christi zum Ausdruck.
Hierzu möchte ich kurz etwas ausholen: Unser Dorf Taizé liegt zehn Kilometer von Cluny entfernt, dessen 1100. Gründungstag vor fünf Jahren begangen wurde. Sie, lieber Herr Abtprimas, waren ja bei dieser Gelegenheit vor fünf Jahren persönlich dabei. Man hatte uns Brüder eingeladen, in den Überresten der alten Klosterkirche ein Gebet zu gestalten und ich habe bei dieser Gelegenheit darüber gesprochen, was wir der Nähe zu Cluny verdanken. Unsere Communauté hat niemals versucht, Cluny nachzuahmen, aber die jahrhundertelange Erfahrung der Mönche hatte einen Einfluss auf die entstehende Communauté. Auch für uns spielt die Liturgie eine große Rolle, die Schönheit des Kirchenraums und der Gesänge, die das Herz für eine persönliche Beziehung zu Gott öffnen.
Es ist sicher kein Zufall, dass es der Cluniazenserabt Petrus Venerabilis war, der im 12. Jahrhundert das Fest der Verklärung Christi, das bis dahin nur in der Ostkirche gefeiert wurde, im Westen einführte. Auch Frère Roger hatte dieses Fest von Anfang an besonders hervorgehoben. Warum ist die Verklärung Christi so wichtig?
Das Evangelium zeigt uns Jesus auf dem Berg im Gebet, in inniger Verbundenheit mit Gott. Da – so heißt es – „rief eine Stimme aus der Wolke: ‚Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.‘“ – Die Jünger sehen einen Augenblick lang das Geheimnis Jesu: Sein Leben besteht in einer Beziehung der Liebe mit Gott, seinem Vater.
Wenn wir das Licht des verklärten Christus im Gebet betrachten, durchdringt es uns immer tiefer. Jeder von uns ist von Gott geliebt und wir können uns wie Jesus Gott vollkommen überlassen. Er verklärt unser ganzes Wesen: Körper, Geist und Seele.
Dann werden selbst unsere Schwäche und unsere Unvollkommenheit zu einer Tür, durch die Gott in unser Leben und in das Leben unsere Gemeinschaft eintreten kann. Die Dornen, die uns behindern, gehen in einem Feuer auf, das uns den Weg erhellt. Unsere inneren Widersprüche und Ängste verschwinden dabei vielleicht nicht, aber durch den Heiligen Geist durchdringt Christus auch das, was uns an uns selbst und an anderen stört. So fällt ein Licht in unsere innere Dunkelheit. Unsere Menschlichkeit und die Unterschiede zwischen uns werden dadurch nicht aufgehoben, aber Gott nimmt sich ihrer an und kann ihnen einen Sinn verleihen. Wenn wir auf den verklärten Christus schauen, berühren sich Himmel und Erde in unserem Leben.
Die Treue im monastischen Leben setzt ein treues kontemplatives Warten voraus: einfach und absichtslos da sein. Auch wenn es uns nicht immer gelingt, unsere innere Sehnsucht in Worte zu fassen – durch unser Schweigen kommt bereits unsere Offenheit für Gott zum Ausdruck.
Die Jungfrau Maria verkörpert eine stille, aber brennende Erwartung Gottes. Gott hat sie immer schon geliebt und auf das vorbereitet, worum er sie eines Tages bitten würde. Dennoch ahnte niemand, der sie kannte, welches Geheimnis diese junge Frau aus Nazareth in sich trug. Aber vollziehen sich die größten Geheimnisse nicht in tiefem Schweigen?
Kein kontemplatives Leben kann sich ohne eine Askese entfalten. Diese strebt nicht so sehr nach einer persönlichen Vollkommenheit, sondern möchte uns für ein gemeinschaftliches Leben mit anderen fähig machen. Christian de Chergé, der Prior von Tibhirine, sprach öfter vom Martyrium, doch er dachte dabei nicht so sehr an einen gewaltsamen Tod, sondern an ein „Martyrium der Liebe“, das wir Tag für Tag leben. Er schrieb: „Wir haben unser Herz Gott ‚als Ganzes‘ geschenkt, und es tut uns weh, dass er es nur ‚scheibchenweise‘ entgegennimmt!“
Welche Askese ist uns in unserer immer stärker technisierten und sich immer schneller verändernden Gesellschaft abverlangt? Die Antwort kann keine neue Form von Antimodernismus sein. Die moderne Technik bietet viele wertvolle Kontaktmöglichkeiten, um am Leben anderer Anteil zu nehmen. Aber wir sehen auch, wie wichtig Orte sind, an denen man aufmerksam zuhört und dem anderen die nötige Zeit schenkt, um persönlich reifen zu können. Dies geht nicht mit dem Streben nach Effizienz überein, das in unseren Gesellschaften oft vorherrscht. Wir sind immer wieder erstaunt, dass für viele Jugendliche – und zwar ganz „normale“ Jugendliche unserer Zeit – das Wichtigste in Taizé die Stille ist.
Eine Form der Askese ist die Ehelosigkeit. Man kann nicht von ihr sprechen, ohne beim Lobpreis, beim Lob Gottes zu beginnen. Jedes Mal, wenn wir zum Beispiel die Worte von Psalm 91 singen: „Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen“, sagen wir Gott „Ja“ – auch wenn unser Lobgesang manchmal sehr ärmlich klingt und uns nur stotternd über die Lippen kommt. Er muss aus uns selbst kommen, manchmal auch aus der Tiefe unserer Not. Es geht nicht darum, Gott etwas vorzuspielen, sondern so vor ihn zu treten, wie wir sind. Wir gehen wie Lahme ins Reich Gottes.
Die in Freiheit angenommene Ehelosigkeit bedeutet auch in anderen Lebensbereichen einen Verzicht. Wir könnten zum Beispiel versucht sein, in materiellen Dingen nach Ersatz für das zu suchen, was uns fehlt. Aber man kann die Ehelosigkeit nicht authentisch leben und gleichzeitig nach Besitz streben.
In ähnlicher Weise könnten wir versucht sein, unsere Arbeit als Privatsphäre zu betrachten, als unser kleines persönliches Reich. Ich sage meinen Brüdern manchmal, dass es wichtig ist, unsere Empfindsamkeit für das Schöne nicht zu vernachlässigen. Nur so können wir unsere Ehelosigkeit authentisch leben. Wenn wir dem Zweckfreien und Schönen im Leben keinen Raum geben, gerät etwas in uns aus dem Gleichgewicht.
Wie die Jünger Jesu müssen auch wir lernen, dass wir uns nicht so entfalten können, wie wir es uns erträumen. In unserem Leben verwirklicht sich etwas viel Größeres, in dem beides – Glück und Leid – nebeneinander besteht. Dies führt uns zu einem immer größeren Loslassen unseres eigenen Willens. Wir werden frei, uns nicht mehr an materiellen Dingen und vielleicht nicht einmal mehr an bestimmten Gewohnheiten in unserem geistlichen Leben festzuhalten. Darin folgen wir Christus nach, der uns sagt: „Selig, die arm sind.“
Um uns völlig der Liebe Gottes zu überlassen, ist unser lebenslanges Engagement von grundlegender Bedeutung. Ein solches Lebensengagement, sei es in der Ehe oder in der Ehelosigkeit, wird heute immer mehr infrage gestellt. Die Psychologie zeigt uns manchmal viele Jahre später, dass wir im Moment unserer Lebensentscheidung nicht die nötige Reife besaßen. Es kann Situationen geben, in denen es tatsächlich besser ist, eine geistliche Berufung aufzugeben. Aber ich möchte mit Nachdruck darauf hinweisen, wie notwendig es ist, dem unwiderruflichen Lebensengagement, diesem Eckpfeiler des gemeinschaftlichen Lebens, noch mehr Beachtung zu schenken. Wir überlegen in Taizé, wie die Vorbereitungszeit, das Noviziat, noch intensiver werden könnte und wie wir unser Lebensengagement, die ewige Profess, in bestimmten Momenten unseres Lebens erneuern könnten.
In einem Leben der Gemeinschaft mit Gott gehen wir von einem Neubeginn zum nächsten. Aus der Bibel wissen wir, dass Gott niemals müde wird, sich mit uns von Neuem auf den Weg zu machen. So dürfen auch wir nicht müde werden, immer wieder von vorne anzufangen.
Die brüderliche Gemeinschaft
In diesem steten Neuanfang muss sich jeder Einzelne fragen: ‚Was ist heute von mir gefordert, um über mich hinauszugehen?‘ – Die Antwort besteht nicht unbedingt darin, mehr zu tun. Vielmehr sind wir dazu aufgerufen, mehr zu lieben. Dies bringt mich zum zweiten Punkt, den ich heute ansprechen möchte: Das monastische Leben führt uns in eine immer tiefere Gemeinschaft miteinander, in ein brüderliches Leben, das auf die gegenseitige Liebe gegründet ist. Das muss Vorrang vor allem anderen haben! Ohne diese brüderliche Liebe kann eine Gemeinschaft vielleicht Großartiges vollbringen, aber sie wäre kein klares Zeichen Gottes mehr.
Um diese Gemeinschaft mit dem Wort Gottes in Verbindung zu bringen, hilft ein Blick in die Evangelien. Die Synoptiker und der Evangelist Johannes sprechen in etwas unterschiedlicher Weise über die Liebe.
Im Johannesevangelium ruft Jesus zu gegenseitiger Liebe auf und sagt: „Ein neues Gebot gebe ich euch: ‚Liebt einander! Wie ich euch geliebt habe, so sollt auch ihr einander lieben.‘“ ( Johannes 13,34) Kurz zuvor wusch Jesus seinen Jüngern die Füße. Aus Liebe zueinander werden sie sich in seiner Nachfolge hingeben.
Die brüderliche Liebe schafft einen Raum, in dem das Reich Gottes bereits anbricht und in dem andere Gesetze gelten als in der Welt. Das Reich Gottes ist eine neue Welt, die erst im Kommen ist. Aber es gibt Orte und Zeiten, in denen es schon heute hervorbricht. Wo Brüder und Schwestern sich wahrhaftig lieben, regiert Gott bereits.
Das Matthäus- und das Lukasevangelium sprechen auf eine etwas andere Weise von der Liebe. Für sie geht es nicht nur darum, den Nächsten zu lieben. Jesus ruft zu einer Liebe auf, die alle Grenzen übersteigt und die sogar den Feinden gilt.
Diese Liebe muss sich konkret zeigen. Das Lukasevangelium erinnert an die Worte Johannes des Täufers: „Wer zwei Gewänder hat, der gebe eines davon dem, der keines hat, und wer zu essen hat, der handle ebenso.“ (Lukas 3,11) An anderen Stellen geht Jesus sogar noch weiter: Ein Gewand abzugeben, wenn man zwei hat, ist nichts anderes als gerecht handeln. Jesus dagegen verlangt, über diese Gerechtigkeit hinauszugehen: „Lass dem, der dir den Mantel wegnimmt, auch noch das Hemd. Gib jedem, der dich bittet; und wenn dir jemand etwas wegnimmt, verlang es nicht zurück.“ (Lukas 6,29-30)
Ein Gesetz legt Pflichten fest, die Barmherzigkeit hingegen hat keine Grenzen, sie sagt niemals: „Es genügt, ich habe meine Pflicht getan.“ Die Liebe ist kein Geben und Nehmen: „Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden.“ (Lukas 6,32-34) Eine vollkommen unentgeltliche Liebe hat etwas sehr Radikales an sich!
Ist die gegenseitige Bruderliebe, wie das Johannesevangelium sie beschreibt, also ein Rückschritt im Vergleich zu den Synoptikern? Nein, das ist sie nicht, denn sie kann uns mindestens genauso viel abverlangen! Manchmal ist es sogar schwerer, geduldig eine Beziehung zu einem Bruder aufzubauen, als sich mit Großherzigkeit den Armen zu opfern.
Wir müssen uns im konkreten Leben als Brüder erweisen; manchmal lauern gerade dort die größten Widerstände. Wie in einer Familie, kann man sich auch im gemeinsamen Leben seine Brüder und Schwestern nicht aussuchen. Eine Gemeinschaft ist ein Ort, an dem wir immer wieder unsere inneren Widerstände und Abneigungen überwinden müssen. Wenn uns dies schon in unserer Gemeinschaft nicht gelingt, wie wollen wir es dann in anderen Bereichen schaffen?
Das Heilige Jahr führt uns die Radikalität der Barmherzigkeit vor Augen und lädt uns ein, sie noch tiefer zu leben. Müssen die Erneuerung der Kirche und auch die des monastischen Lebens nicht von dort ausgehen?
Aber um aus der Quelle der Liebe zu schöpfen, die uns das Evangelium eröffnet, müssen wir noch tiefer gehen. Die Liebe der Jünger zueinander ist auf Erden ein Widerschein der innertrinitarischen Liebe Gottes. So ärmlich das konkrete Leben unserer Gemeinschaften oft auch sein mag, wir müssen es in diesem Licht sehen.
Unsere brüderliche Liebe schöpft aus der Liebe, die zwischen den drei göttlichen Personen besteht und die wir im Gebet betrachten. Wir können also begreifen, dass Freiheit und Gemeinschaft einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig stärken. Der Heilige Geist schenkt uns unsere persönliche Eigenständigkeit und macht uns gleichzeitig fähig, uns dem zu überlassen, was nicht von uns selbst kommt und über uns hinausgeht.
Der Heilige Geist verteidigt die Würde des Menschen, die uns als Individuum stärkt, und er vereint uns gleichzeitig miteinander. Er macht uns einerseits fähig, „ich“ zu sagen, uns persönlich in Freiheit zu entfalten und eigene Entscheidungen zu treffen, und er hilft uns anderseits, unseren eigenen Willen allmählich zu überwinden und uns Gott zu überlassen, indem wir das Leben in Gemeinschaft zu unserem Eigenen machen. Ja, man kann sogar sagen, dass der Mensch als Individuum durch das Leben in einer Gemeinschaft, das notwendigerweise unvollkommen ist, immer mehr zu einer Reife gelangt, zu der er ohne die mit dem gemeinsamen Leben verbundenen Spannungen nicht gefunden hätte.
In unserer Zeit wird dem Individualismus ein großer Wert beigemessen. Wir sollten dies nicht nur beklagen. Viele Menschen möchten die großen Entscheidungen in ihrem Leben eigenverantwortlich treffen. Auch ein Christ kann heute nicht länger nur mehr oder weniger unbewusst den Traditionen folgen. Wir sind aufgerufen, uns im Glauben persönlich zu engagieren.
Einer meiner Brüder sagte kürzlich zu mir: „Bevor ich mein Leben in einer Gemeinschaft hingeben kann, muss es mir gehören.“ Er hat recht und dieser Gedanke ist sogar sehr wichtig. Wir müssen uns zuallererst selbst kennen und dem treu sein, was zutiefst in uns angelegt ist; wir müssen frei sein von Fremdbestimmung. Die Berufung ist nichts, was uns von außen übergestülpt wurde, unser Lebensengagement muss vielmehr einer tiefen Sehnsucht in uns entsprechen.
Aber wir müssen auch zugeben, dass wir für uns selbst immer ein großes Geheimnis bleiben. Auch die Psychologie kann dieses Geheimnis nur teilweise durchdringen. Es wird uns nie vollauf bewusst, was unsere Entscheidungen letztendlich beeinflusst. Wir entdecken erst nach und nach, was uns in der Tiefe bewohnt. Das „Ich will es“, das wir bei unserer Profess sprechen, muss auch für die „grauen“ Bereiche unseres Wesens gelten, für das, was noch nicht zu seiner vollkommenen Reife gelangt ist. Auf unserem Weg müssen wir immer wieder hinnehmen, dass uns etwas fehlt; immer wieder können Hindernisse auftauchen, die es nötig machen, unser „Ich will es“ neu zu sprechen. Unsere persönliche Freiheit besteht nicht darin, von jeglicher Fremdbestimmung frei zu sein – das wäre unmöglich! Sie besteht vielmehr darin, im Laufe der Jahre all das anzunehmen, was unsere Persönlichkeit geprägt hat.
Wir können uns nur um einer größeren Liebe willen dem überlassen, was nicht von uns kommt – nur wenn wir erahnen, dass es einen verborgenen Schatz gibt, für den wir alles hinzugeben bereit sind.
Schauen wir, wie Christus gelebt hat! Er hat in völliger Freiheit „ich“ gesagt, aber gleichzeitig auch: Ich tue nicht meinen Willen, sondern den Willen meines Vaters. – Die mehr oder weniger schweren Krisen, die jedes Lebensengagement mit sich bringt, veranlassen uns dazu, unseren Weg zwischen den beiden Polen – der persönlichen Freiheit einerseits und der Selbsthingabe anderseits – immer wieder neu auszurichten. Der Heilige Geist steht uns in dieser Spannung bei, die durchaus positiv ist und die unsere Kreativität anregen kann.
Ein Gleichnis der Gemeinschaft
Wir stellen in Taizé immer wieder fest, dass Jugendliche für diese Fragen heute sehr empfänglich sind. Sie sehen das Zeugnis der Communauté als Ganzes, nicht nur einzelne Personen. Für sie ist das gemeinsame Leben ein Zeichen des Evangeliums. Damit komme ich zu meinem dritten Punkt, der Gemeinschaft, die aus sich herausgeht, um missionarisch zu werden.
Ich möchte meinen Gedanken das Gebet Jesu am Vorabend seiner Passion voranstellen: „Alle sollen eins sein: Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir bin, sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaubt, dass du mich gesandt hast.“ ( Johannes 17,21)
Frère Roger war bei der Gründung unserer Communauté zu Beginn des Zweiten Weltkriegs davon überzeugt, dass das Leben einer Gemeinschaft von Brüdern inmitten des zerrissenen Europas ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung ist. Er beschreibt die Berufung der Communauté für seine zukünftigen Brüder als ein „Gleichnis der Gemeinschaft“.
Ein Gleichnis ist eine einfache und leichtverständliche Geschichte, die auf eine andere Wirklichkeit verweist. Der Sinn eines Gleichnisses ist unerschöpflich; ein Gleichnis vermittelt nicht allgemeingültige Aussagen, es fordert den Hörer immer wieder neu heraus.
Jedes Leben, das Gott und dem Dienst am Nächsten geweiht ist, kann zu einem Gleichnis werden. Viele unserer Zeitgenossen leben so als gäbe es keinen Gott. Deshalb ist das lebenslange Engagement von Menschen in der Nachfolge Christi ein Zeichen, das zum Nachdenken veranlasst. Wenn Christus nicht auferstanden und in diesen Menschen gegenwärtig wäre, würden sie nicht so leben.
Ein solches Gleichnis drängt sich nicht auf und es versucht auch nicht, etwas zu beweisen. Es öffnet in einer in sich verschlossenen Welt ein Fenster auf das Jenseits, es gewährt einen Blick in die Unendlichkeit. Wer so lebt, hat in Christus sozusagen einen Anker in Gott und kann auch Stürme überstehen.
Wir Brüder von Taizé möchten ein solches Gleichnis der Gemeinschaft leben. Gemeinschaft, Versöhnung, Vertrauen sind für uns Schlüsselbegriffe. Wir möchten damit andeuten, dass eine Gemeinschaft zu einem „Laboratorium der Brüderlichkeit“ werden kann.
Wir sind dankbar, dass seit 50 Jahren in unserer Nähe auch eine Schwesterngemeinschaft dieses Gleichnis mit uns lebt, die ignatianisch geprägten Schwestern von Saint André, die die Jugendtreffen in Taizé mittragen und mit denen wir uns sehr gut ergänzen. Ebenso helfen uns, wenn auch noch nicht ganz so lange, auch polnische Ursulinen und Barmherzige Schwestern (Vinzentinerinnen).
Ich möchte zunächst zwei Bereiche erwähnen, in denen uns die Suche nach Gemeinschaft und Geschwisterlichkeit besonders viel abver-langt: erstens die Versöhnung der Christen und zweitens das Zusammenleben der Kulturen.
Unsere Communauté besteht aus evangelischen und katholischen Brüdern und möchte auf diese Weise die zukünftige Einheit vorwegnehmen. Dies setzt voraus, an einem einzigen eucharistischen Tisch zur Kommunion zu gehen. Seit 1973 ist es uns möglich, gemeinsam die katholische Kommunion zu empfangen. Wir haben keinerlei kanonischen Status, aber wir haben uns für eine enge Beziehung zu dem Dienstamt der Einheit entschieden, das der Bischof von Rom, der Papst, ausübt.
Diejenigen von uns Brüdern, die in einer evangelischen Familie aufgewachsen sind, leben dies ohne ihre Herkunft auf irgendeine Weise zu verleugnen; sie erleben vielmehr, dass ihr Glaube dadurch an Weite gewinnt. Die Brüder aus katholischen Familien sehen eine Bereicherung darin, sich den Gaben der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen zu öffnen, in denen die Heilige Schrift einen zentralen Platz einnimmt, in denen Christus im Mittelpunkt des Glaubens steht, die Gewissensfreiheit einen großen Wert darstellt und der gemeinsame Gesang im Leben der Gemeinde eine große Rolle spielt… Ein solches ökumenisches Leben ist für uns selbstverständlich geworden. Es kann Einschränkungen und Verzicht mit sich bringen, aber Versöhnung ist niemals möglich, ohne auf etwas zu verzichten.
Die Nähe zu den Orthodoxen Kirchen kommt unter anderem darin zum Ausdruck, dass orthodoxe Mönche aus verschiedenen Ländern von Zeit zu Zeit unser gemeinsames Leben teilen.
Man kann die Geschichte von Taizé als Versuch sehen, „unter ein Dach“ zu ziehen und gemeinsam zu leben. Wir Brüder der Communauté kommen aus fast 30 verschiedenen Ländern und leben unter dem Dach eines Hauses zusammen. Dreimal am Tag versammeln wir uns zum gemeinsamen Gebet unter dem einen Dach der „Versöhnungskirche“.
An unserem gemeinsamen Gebet nehmen in Taizé Jugendliche aus der ganzen Welt teil. Katholiken, Protestanten und orthodoxe Christen schließen sich so diesem gelebten Gleichnis der Gemeinschaft an. Es erstaunt uns immer wieder zu hören, dass sie auf diese Weise eine tiefe Einheit untereinander erfahren, ohne dabei ihre Unterschiede im Glauben auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen. Im gemeinsamen Gebet entsteht eine Harmonie zwischen Menschen verschiedener Konfessionen, Kulturen und sogar Völker, zwischen denen andernorts starke Spannungen bestehen.
Darf ich Ihnen bei dieser Gelegenheit folgenden Vorschlag machen: Könnten die Ordensleute – Männer und Frauen – im Hinblick auf die Einheit der Christen nicht noch mehr Brücken zwischen den verschiedenen Kirchen bauen? Ist die Suche nach Gemeinschaft und Einheit nicht sogar, auf verschiedene Weise, Teil ihrer Berufung? Und ist es nicht an der Zeit, mehr Beziehungen zum Mönchtum der orthodoxen Kirchen herzustellen? In manchen protestantischen Kirchen gibt es ebenfalls eine Tradition und ein wachsendes Interesse für das gemeinschaftliche Leben.
Der zweite Bereich unserer Suche nach Brüderlichkeit ist das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen. Diese Frage ist auch Ihnen vertraut. Wir Brüder kommen nicht nur aus verschiedenen Teilen Europas, sondern auch aus Afrika, Asien und aus Nord- und Südamerika. Diese Verschiedenheit wird heute immer selbstverständlicher, obwohl die Globalisierung für manche Menschen auch eine Bedrohung darstellt. Aber die riesige Flüchtlingswelle in Europa, die wahrscheinlich noch lange anhält, bringt vielerorts auch eine beeindruckende Großherzigkeit zum Vorschein. Könnte die vom monastischen Leben ausgehende Harmonie nicht auch ein Zeichen der Gemeinschaft zwischen den verschiedenen Gesichtern der Menschheit sein?
Sie wissen ebenso gut wie wir, dass dies kein leichter Weg ist. Ich möchte auch nicht leugnen, dass es uns trotz unseres gemeinsamen Glaubens nicht immer gelingt, Gräben zu überwinden. Wir haben unterschiedliche Charaktere, manchmal sind wir ungeschickt im Umgang miteinander und begehen Fehler, das steht außer Frage. Aber es gibt noch ein tieferes Problem, das nicht nur von uns abhängt: Oft ist der Abstand zwischen unseren verschiedenen Gesichtern der Menschheit zu groß. Und dieser Abstand zwischen unseren Ländern und Kontinenten wird durch die Folgen geschichtlicher Wunden noch vergrößert.
Das ist zwar sehr traurig, aber wie können wir damit umgehen? Indem wir uns davon nicht lähmen lassen; indem wir nicht stehenbleiben, sondern weiterhin nach Einheit und Versöhnung suchen.
Dies verweist uns auf Christus: Er allein kann alles zusammenführen. Und darin möchten wir ihm nachfolgen und sind auch bereit, dafür zu leiden. Wir dürfen vor dem anderen keine Angst haben, ihn nicht verurteilen und auch dem Eindruck widerstehen, selbst verurteilt zu werden. Es ist wichtig, Dinge nicht negativ zu interpretieren, sondern die aufkommenden Fragen offen anzusprechen – und vor allen Dingen dürfen wir niemandem die brüderliche Gemeinschaft verweigern.
Das, worüber ich spreche, mag sehr ernst klingen. Aber es ist paradoxerweise auch die Quelle einer tiefen Freude; die Freude, die darin liegt, dem Ruf des Evangeliums bis zum Ende zu folgen.
Ich möchte an dieser Stelle noch auf einen Punkt eingehen, der das Gleichnis der Gemeinschaft betrifft. Damit das Wort Gottes die Menschen durch ein Gleichnis wirklich anspricht, muss das Gleichnis sehr einfach sein. Deshalb ist die Einfachheit, zu der Frère Roger uns in seiner „Regel von Taizé“ aufruft, ein so wesentliches Moment unseres Lebens.
Papst Franziskus sagt in „Evangelii Gaudium“ genau das Gleiche, wenn er dazu auffordert, sich bei der Verkündigung des Evangeliums auf das eigentliche Kerygma, auf die wesentliche Botschaft zu konzen-trieren. Es geht nicht darum, den Glauben zu reduzieren, sondern immer wieder zum Wesentlichen in ihm zurückzukommen.
Im Mittelpunkt der Bibel steht die Liebe Gottes und die Liebe zu unserem Nächsten. Die Bibel erzählt die Geschichte dieser Liebe: der Zauber des Anfangs, die auftauchenden Hindernisse und die Untreue des Volkes. Aber Gott wird niemals müde zu lieben. Die Bibel ist die Geschichte der Treue Gottes. Diese einfache Botschaft der Liebe möchten wir durch unser gemeinsames Leben weitergeben.
Die Einfachheit betrifft natürlich zunächst die materiellen Aspekte unseres Lebens. Darauf möchten wir ständig achten. Aber die Einfachheit betrifft auch andere Bereiche, unter anderem unser liturgisches Gebet.
Wir behaupten nicht, in Taizé Patentlösungen gefunden zu haben, aber Frère Roger hat gespürt, dass unsere Gastfreundschaft sich auch auf das Gebet erstrecken muss. Er hatte den Mut, unser gemeinsames Gebet zu vereinfachen. Das liturgische Gebet ist eine Art Predigt, es ist Katechese und führt in den Glauben ein.
Wenn wir die Jugendlichen bei uns aufnehmen, nehmen wir sie gleichsam bei der Hand, um sie – nicht theoretisch, sondern ganz konkret – ins Gebet einzuführen. Dazu mussten wir vieles ändern, um das Herz des Evangeliums klarer durchscheinen zu lassen und so den jungen Menschen eine persönliche Begegnung mit Gott zu ermöglichen.
Wir haben den Kirchenraum mit einfachen Mitteln einladend gestaltet: Glasfenster, Kerzen und farbige Stoffbahnen laden zum kontemplativen Gebet ein. Ikonen öffnen für eine Gemeinschaft mit Gott, sie sind durchdrungen vom Geist der Schrift, wie es uns die Ostkirche lehrt.
Im gemeinsamen Gebet werden kurze und leicht verständliche Bibelstellen gelesen; schwierigere Schrifttexte behandeln wir in den täglichen Bibelarbeiten mit den Jugendlichen.
Wir haben im Laufe der Jahre auch gemerkt, wie wichtig eine längere Zeit der Stille – acht bis zehn Minuten – nach der Schriftlesung ist. Dies klingt vielleicht erstaunlich, aber die Jugendlichen lassen sich ohne Weiteres darauf ein. In dieser Zeit der Stille ist der Einzelne vor Gott allein, selbst inmitten von vielen anderen. In der Stille kann ein Bibelwort in uns aufgehen. In langen Zeiten des Schweigens, in denen scheinbar nichts passiert, ist Gott am Werk, ohne dass wir wissen wie.
Die sogenannten „Gesänge von Taizé“ tragen ein kontemplatives Leben. Wenn wir einen bestimmten Satz aus der Schrift oder der christlichen Tradition mehrere Minuten lang wiederholen, geht er in uns ein. Einen einzelnen Satz kann man sich gut merken, und so kann er uns den Tag über begleiten. Auch trägt der gemeinsame Gesang dazu bei, eine Einheit unter den Anwesenden herzustellen.
Jeden Abend bleiben einige von uns Brüdern und einige von den Schwestern, die ich bereits erwähnte, sowie anwesende Priester nach dem liturgischen Teil des gemeinsamen Gebets in der Kirche, um den Jugendlichen zuzuhören, die ein persönliches Gespräch suchen oder um die Beichte bitten. Man kann die Bedeutung des persönlichen Zuhörens nicht stark genug betonen! Frère Roger hat uns immer wieder daran erinnert, dass wir keine geistlichen Meister sind, sondern Menschen, die zuhören. Dies trifft für jeden von uns zu, gleich ob wir seelsorglich tätig sind oder einer anderen Arbeit nachgehen.
Wir versuchen, liturgische Symbole und Zeichen sparsam zu verwenden, um ihnen ihre Einfachheit zu bewahren: So wird zum Beispiel jeden Freitagabend im Anschluss an das gemeinsame Gebet die Kreuzikone in die Mitte der Kirche gelegt. Jeder, der möchte, kann mit seiner Stirn das Kreuz berühren und auf diese Weise Christus seine persönliche Last und das Leid auf der Welt anvertrauen. Am Samstagabend erstrahlt die ganze Kirche im Licht kleiner Kerzen, die jeder Einzelne als Zeichen der Auferstehung in der Hand hält. Auf diese Weise steht jedes Wochenende im Zeichen des Ostergeheimnisses.
Abschließende Bemerkungen
Zum Abschluss möchte ich noch Folgendes sagen: Die Gemeinschaft oder – mit einem anderen Wort – die Geschwisterlichkeit ist im Herzen des Wortes Gottes. Müssten wir Christen also nicht Pioniere dieser Geschwisterlichkeit sein, die Christus gestiftet hat, und damit den Gesellschaften von morgen ein Gesicht geben, in dem die Brüderlichkeit noch sichtbarer ist? Die Geschwisterlichkeit spricht Nichtglaubende in gleicher Weise an wie Glaubende.
Ohne sich aufzudrängen, können Christen eine Globalisierung der Solidarität vorantreiben, von der kein einziger Mensch und kein Volk der Erde ausgenommen ist. Vielleicht können unsere Gemeinschaften das geschwisterliche Miteinander auf der Erde zumindest ansatzweise vorantreiben; vielleicht können wir – wenn auch nur kleine – Samenkörner des Vertrauens und des Friedens säen.
Das erinnert mich noch einmal an Cluny. Dort waren die Mönche in der Lage, die Grenzen im damaligen Europa zu überschreiten. Überall gab es Klöster. Ein Mann wie Abt Mayeul zog im 10. Jahrhundert in ganz Europa von einem Kloster zum anderen. Außerdem empfing er Gäste aus allen Teilen der damaligen Welt und machte Cluny zu einer bedeutenden Begegnungsstätte. Sein Beispiel ist für uns ein Ansporn, mit Jugendlichen aller Kontinente nach den inneren Quellen zu suchen, die uns trotz unserer kulturellen Unterschiede zu einer einzigen Menschheitsfamilie zusammenwachsen lassen.
Die Mönche von Cluny sind bleibende Zeugen, dass in der Geschichte manchmal eine kleine Zahl von Menschen genügt, um den Ausschlag zum Frieden zu geben. Gott konnte sich offenbaren, weil Einzelne – denken wir nur an Abraham und Maria – daran geglaubt haben, dass für ihn nichts unmöglich ist. Die Welt ändert sich, nicht so sehr durch spektakuläre Aktionen, sondern durch die tägliche Treue im Gebet, im Frieden des Herzens und der Güte.